28. Juni 2025

Kann Siarhei Tsikhanouski das Regime stürzen?

Kann Siarhei Tsikhanouski das Regime stürzen?

 | 27. Juni 2025

 | von Angelina Lipien

Nach fünf Jahren Haft, von denen er einen großen Teil in Einzelhaft und unter Isolationsbedingungen verbracht hat, zeigt sich Siarhei Tsikhanouski voller Energie. Bei Treffen mit Journalist:innen und Belarusen erklärt er, dass er seine politische Tätigkeit fortsetzen wolle – mit oder ohne Unterstützung – um „das Regime zu brechen“. Solche Worte bewegten 2020 Hunderttausende. Doch wie aktuell sind sie im Jahr 2025? Zerkalo.io hat mit dem Soziologen Hennadsj Korschunau gesprochen.

„Die Menschen sehen keine Möglichkeit, auf Dinge außerhalb ihres Alltags Einfluss zu nehmen“

Die Ereignisse von 2020 seien in den letzten fünf Jahren tatsächlich zunehmend aus dem gesellschaftlichen Fokus verschwunden, sagt Hennadsj Korschunau. Einen erheblichen Anteil daran habe der Krieg in der Ukraine.

„Der Krieg hat die damalige Begeisterung emotional überlagert – das zeigen viele Studien. Aus Sicht vieler wird der Regierung sogar zugutegehalten, dass Belarus sich militärisch nicht aktiv beteiligt hat. Und auch der wirtschaftliche Kollaps, auf den viele gehofft hatten, blieb aus. Es herrscht eine gewisse wirtschaftliche Stabilität. Diese beiden Faktoren wirken sich stark auf das Bewusstsein der Menschen aus.“

Gleichzeitig, so Korschunau, seien die Probleme von 2020 ungelöst geblieben – und damit auch der Unmut.

„Es ist wie ein Blätterteig. Oben eine Kruste der Zufriedenheit, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Darunter aber: keine Akzeptanz und keine Freude über den allgemeinen Zustand.“

Was Menschen konkret tun, hänge von drei Faktoren ab: dem, was sie tun wollen, was sie tun können und den äußeren Umständen. Und aktuell, so der Soziologe, sehen viele keine realistische Möglichkeit, über ihren Alltag hinaus etwas zu bewirken.

„Man kann natürlich jeden Tag mit dem Kopf gegen die Wand rennen und hoffen, dass sie einstürzt. Aber die meisten konzentrieren sich auf das, was sie hier und jetzt beeinflussen können.“

Aktuelle Studien, an deren Auswertung Korschunau arbeitet, zeigen ein verbreitetes Gefühl des „Ersticktseins“ in der Gesellschaft. Meinungsäußerung sei kaum mehr möglich.

„Ideen, Wünsche, Ambitionen – ob im Bildungsbereich oder in der Wirtschaft – werden so stark unterdrückt, dass sie sich praktisch nicht mehr artikulieren lassen. Das gesellschaftliche Schweigen ist heute sogar noch größer als 2019. In vielen Bereichen weichen Menschen aus, geben keine Antwort oder wählen ‚Schwer zu sagen‘ – das sehen wir sehr häufig.“

„Tsikhanouskis Erfahrung unterscheidet sich heute deutlich von der des Landes“

Die Stimmungen innerhalb und außerhalb von Belarus ähneln sich in manchen Punkten – etwa im geteilten Schmerz – unterscheiden sich aber auch deutlich, erklärt Korschunau.

„Der Alltag ist komplett verschieden. Wir stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen, haben unterschiedliche Werkzeuge, um sie zu bewältigen – und dadurch entstehen auch unterschiedliche Weltbilder.“

Zugleich hätten die Zeiten gegenseitiger Vorwürfe ihren Höhepunkt überschritten. Es gebe nun sichtbare oder latente Versuche, miteinander in Kontakt zu bleiben und gemeinsam etwas zu bewegen.

„Doch das ist schwer. Seit 2023 hat das Lukaschenka-Regime den Ausgereisten de facto den Krieg erklärt: Sie bekommen keine Pässe mehr, ihre Organisationen im Ausland werden als extremistisch eingestuft. Sogar in den letzten Tagen gab es Provokationsversuche gegen Treffen belarusischer Gruppen im Ausland.“

Auf beiden Seiten der Grenze stehen Belarus:innen unter ständigem Druck der Behörden. Das sei für eine gewisse Zeit erträglich, aber irgendwann entlade sich gesellschaftliche Energie. Ob die Freilassung Tsikhanouskis diesen Prozess beschleunige?

„Eine starke Resonanz im belarusischen Inland erwarte ich im Moment nicht. Es verdient großen Respekt, dass Siarhei Tsikhanouski trotz allem nicht gebrochen ist. Aber er kommt mit der Erfahrung von 2020 zurück – unverändert, ‚in Reinform‘. Das belarusische Volk dagegen hat fünf Jahre voller Repression, Krieg, Neuorientierung und Erschöpfung durchlebt. Ihm fehlen oft Ressourcen und es erlebt, wie Handlungsspielräume schrumpfen. Die Vorstellungen davon, was wünschenswert und was realistisch ist, klaffen auseinander.“

„Die Lage ist nicht mehr dieselbe wie 2020“

Die Zeit vergehe, neue Ereignisse träten ein – manche davon seien groß und tragisch, wie der Krieg in der Ukraine. Es entstünden neue Ängste, manche würden wahr, andere nicht.

„Deshalb ist es illusorisch zu glauben, dass wir einfach wiederholen können, was wir 2020 erlebt haben. Der geopolitische und gesellschaftliche Kontext hat sich verändert. Was in Zukunft geschieht, bleibt abzuwarten. Vielleicht liege ich falsch, vielleicht bewirken Tsikhanouskis Leidenschaft und Energie doch etwas. Aber ich sehe leider aktuell keine großen Spielräume dafür.“

27. Juni 2025

von Angelina Lipien

Nach fünf Jahren Haft, von denen er einen großen Teil in Einzelhaft und unter Isolationsbedingungen verbracht hat, zeigt sich Siarhei Tsikhanouski voller Energie. Bei Treffen mit Journalist:innen und Belarusen erklärt er, dass er seine politische Tätigkeit fortsetzen wolle – mit oder ohne Unterstützung – um „das Regime zu brechen“. Solche Worte bewegten 2020 Hunderttausende. Doch wie aktuell sind sie im Jahr 2025? Zerkalo.io hat mit dem Soziologen Hennadsj Korschunau gesprochen.

„Die Menschen sehen keine Möglichkeit, auf Dinge außerhalb ihres Alltags Einfluss zu nehmen“

Die Ereignisse von 2020 seien in den letzten fünf Jahren tatsächlich zunehmend aus dem gesellschaftlichen Fokus verschwunden, sagt Hennadsj Korschunau. Einen erheblichen Anteil daran habe der Krieg in der Ukraine.

„Der Krieg hat die damalige Begeisterung emotional überlagert – das zeigen viele Studien. Aus Sicht vieler wird der Regierung sogar zugutegehalten, dass Belarus sich militärisch nicht aktiv beteiligt hat. Und auch der wirtschaftliche Kollaps, auf den viele gehofft hatten, blieb aus. Es herrscht eine gewisse wirtschaftliche Stabilität. Diese beiden Faktoren wirken sich stark auf das Bewusstsein der Menschen aus.“

Gleichzeitig, so Korschunau, seien die Probleme von 2020 ungelöst geblieben – und damit auch der Unmut.

„Es ist wie ein Blätterteig. Oben eine Kruste der Zufriedenheit, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Darunter aber: keine Akzeptanz und keine Freude über den allgemeinen Zustand.“

Was Menschen konkret tun, hänge von drei Faktoren ab: dem, was sie tun wollen, was sie tun können und den äußeren Umständen. Und aktuell, so der Soziologe, sehen viele keine realistische Möglichkeit, über ihren Alltag hinaus etwas zu bewirken.

„Man kann natürlich jeden Tag mit dem Kopf gegen die Wand rennen und hoffen, dass sie einstürzt. Aber die meisten konzentrieren sich auf das, was sie hier und jetzt beeinflussen können.“

Aktuelle Studien, an deren Auswertung Korschunau arbeitet, zeigen ein verbreitetes Gefühl des „Ersticktseins“ in der Gesellschaft. Meinungsäußerung sei kaum mehr möglich.

„Ideen, Wünsche, Ambitionen – ob im Bildungsbereich oder in der Wirtschaft – werden so stark unterdrückt, dass sie sich praktisch nicht mehr artikulieren lassen. Das gesellschaftliche Schweigen ist heute sogar noch größer als 2019. In vielen Bereichen weichen Menschen aus, geben keine Antwort oder wählen ‚Schwer zu sagen‘ – das sehen wir sehr häufig.“

„Tsikhanouskis Erfahrung unterscheidet sich heute deutlich von der des Landes“

Die Stimmungen innerhalb und außerhalb von Belarus ähneln sich in manchen Punkten – etwa im geteilten Schmerz – unterscheiden sich aber auch deutlich, erklärt Korschunau.

„Der Alltag ist komplett verschieden. Wir stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen, haben unterschiedliche Werkzeuge, um sie zu bewältigen – und dadurch entstehen auch unterschiedliche Weltbilder.“

Zugleich hätten die Zeiten gegenseitiger Vorwürfe ihren Höhepunkt überschritten. Es gebe nun sichtbare oder latente Versuche, miteinander in Kontakt zu bleiben und gemeinsam etwas zu bewegen.

„Doch das ist schwer. Seit 2023 hat das Lukaschenka-Regime den Ausgereisten de facto den Krieg erklärt: Sie bekommen keine Pässe mehr, ihre Organisationen im Ausland werden als extremistisch eingestuft. Sogar in den letzten Tagen gab es Provokationsversuche gegen Treffen belarusischer Gruppen im Ausland.“

Auf beiden Seiten der Grenze stehen Belarus:innen unter ständigem Druck der Behörden. Das sei für eine gewisse Zeit erträglich, aber irgendwann entlade sich gesellschaftliche Energie. Ob die Freilassung Tsikhanouskis diesen Prozess beschleunige?

„Eine starke Resonanz im belarusischen Inland erwarte ich im Moment nicht. Es verdient großen Respekt, dass Siarhei Tsikhanouski trotz allem nicht gebrochen ist. Aber er kommt mit der Erfahrung von 2020 zurück – unverändert, ‚in Reinform‘. Das belarusische Volk dagegen hat fünf Jahre voller Repression, Krieg, Neuorientierung und Erschöpfung durchlebt. Ihm fehlen oft Ressourcen und es erlebt, wie Handlungsspielräume schrumpfen. Die Vorstellungen davon, was wünschenswert und was realistisch ist, klaffen auseinander.“

„Die Lage ist nicht mehr dieselbe wie 2020“

Die Zeit vergehe, neue Ereignisse träten ein – manche davon seien groß und tragisch, wie der Krieg in der Ukraine. Es entstünden neue Ängste, manche würden wahr, andere nicht.

„Deshalb ist es illusorisch zu glauben, dass wir einfach wiederholen können, was wir 2020 erlebt haben. Der geopolitische und gesellschaftliche Kontext hat sich verändert. Was in Zukunft geschieht, bleibt abzuwarten. Vielleicht liege ich falsch, vielleicht bewirken Tsikhanouskis Leidenschaft und Energie doch etwas. Aber ich sehe leider aktuell keine großen Spielräume dafür.“